Sonntag, 22. Juni 2014

Wolfdietrich Schnurre

Ein Zufallsfund im Wühlkasten meines Antiquars brachte mir vor knapp drei Wochen einen Band, »Der Schattenfotograf«, von Wolfdietrich Schnurre, ins Haus. Und wie ich heute, nachdenkend bei der Lektüre seines Wikipedia-Artiels, eben feststellte, dürfte es sich damals zufällig (gibt es »Zufall«?) um die 25. Wiederkehr seines Todestages, 9. Juni 1989, gehandelt haben.

Ich kannte von diesem Autor vorher nicht viel mehr als den Namen, muß jedoch gestehen, daß ich mich am »Schattenfotografen« schnell »festgelesen« hatte: Aphoristisches, Assoziatives, Gedankensplitter liegen mir einfach — da hat's ein Autor vergleichsweise leicht, meine Aufmerksamkeit zu fesseln.

Schnurres Wikipedia-Artikel ist nun — prima facie — nicht dazu angetan, mich für ihn zu begeistern: zu links, zu gutmenschlich, zu »schuldkulturell« (oder sollte man besser »schuldkultürlich« sagen?) kommt er mir darin rüber. Aber was heißt das schon? Wenn's ehrliche Betroffenheit ist (und das merkt man schnell!), dann ist auch ostentative Betroffenheit erträglich ...

Mathias Adelhoefer schrieb 1995, aus Anlaß des — von diesem nicht mehr erlebten — 75. Geburtstags des Autors, einen Gedenkartikel: »Vom Vergessen bedroht: Überlegungen zu Wolfdietrich Schnurre«. Daraus ein paar Absätze anstelle einer eigenen Würdigung, die mir nach der Lektüre bisher bloß eines Werkes doch recht vermessen erschiene:
In einer seiner Dialoggeschichten mit dem doppeldeutigen Titel "Die Umkehr" (in Ich brauch dich, 1976) zeigt er, wie leicht das Schuldgefühl zum Schweigen gebracht werden kann, besonders wenn ein Mitwisser, hier die Frau der Hauptfigur, dabei hilft. Sie weiß es zu verhindern, daß Theo sich wegen einer lange zurückliegenden Unrechtstat den Behörden stellt. Schnurre gelingt hier eine Aktualisierung des Schuldthemas, indem er es mit dem Thema der Ausländerfeindlichkeit verbindet. In dem Roman Ein Unglücksfall (1981) gelangt der Glasermeister Goschnik zu der Einsicht, daß er mit der Verglasung der Synagoge seine Schuld zwar sühnen, aber nichts wiedergutmachen kann. 
Karl Krolow spricht in seiner "Laudatio auf Wolfdietrich Schnurre" anläßlich der Verleihung des Büchner-Preises 1983 davon, daß es in Schnurres Leben "Herausforderungen [gab], die Tod und Krankheit, Leiden und Sorgen und langsame Genesung hießen" und er ein insgesamt "schwierig zu bewältigende[s] Leben" hatte.
Nach der Teilung Berlins am 13. August 1961 setzte Schnurre, einem modernen Don Quichotte gleich, alle Hebel in Bewegung, um seine Zeitgenossen im In- und Ausland zu Stellungnahmen gegen diese Unrechtsmaßnahme zu veranlassen. Von seinem Vater, seinen Freunden und der Osthälfte Berlins getrennt, reagierte er schonungslos emotional, so daß es im Juni 1964 zum völligen körperlichen Zusammenbruch und zur Polyneuritis kam. Man kann nur erahnen, was es für Schnurre als Schriftsteller bedeutet haben mag, als Folge der Totallähmung ein Jahr lang nicht schreiben zu können, und man bewundert seinen "zähe[n] Lebensmut", die schwere Krankheit zu überstehen und wieder zu lernen, einen Stift zu halten.
Daß er das Lachen trotz aller Anfechtungen nicht verlernte, mag man als Zweckoptimimus bezeichnen - eine bewunderungswürdige Haltung war dies allemal. Nur zu gerne erinnere ich mich an eine öffentliche Lesung Schnurres im August 1987 in Berlin, als er, von den Folgen der Polyneuritis gezeichnet, leicht schlurfend und gebeugt auf das Podium trat. Der Kontrast zwischen seiner äußeren Erscheinung - hager, gebeugt, zerbrechlich - und seiner kraftvollen, fast jugendlichen Stimme beim Lesen konnte größer kaum sein. Man merkte, welch großen Spaß ihm die Veranstaltung machte, wie sehr er es genoß, aus seiner Dichterklause herauszukommen und den sprichwörtlichen Funken seiner dichterischen Phantasie im Publikum zünden zu sehen. Sein fabulierender Charme war ungebrochen, seine Lebenserfahrung flößte Respekt ein, und die Zuhörer, auch viele junge Menschen, hingen an seinen lachenden Lippen, wenn er von seiner Liebe zum Leben sprach.
Was mir nun als Part bleibt — weiterlesen! Einen Autor, dem ich in vielem denkbar wenig abgewinnen kann, den ich sicherlich in Weltanschauung und Lebensart als mir vielfach »wesensfremd« empfinde. Der mir aber dennoch lesenswert scheint, in seiner ausufernden Phantasie ebenso, wie in der lakonischen Präzision seiner Schilderungen. Und ist dieses »lesenswert« nicht das einzig entscheidende Prädikat bei einem Autor ...?

1 Kommentar:

Brettenbacher hat gesagt…

Gut getroffen.
Und Gratulation zum Fund "Der Schattenfotograf". Ein außergewöhnliches Buch, das nicht vergessen werden wird.
Aber Erinnerung tut not.
Danke für die Erinnerung !