Montag, 21. April 2014

Mane nobiscum, quoniam advesperascit

Mit diesen Worten der Vulgata bitten die Jünger auf dem Weg nach Emmaus im Lukas-Evangelium (Lc. 24,29) Jesus, bei ihnen zu bleiben: »Bleibe bei uns, denn es will Abend werden«. Ich habe schon immer diese Erzählung als eine der schönsten und berührendsten des Neuen Testaments angesehen. Sie wird in der Katholischen Kirche (und wohl auch in vielen protestantischen Gemeinschaften) im Gottesdienst des Ostermontags gelesen, obwohl sie eigentlich (»Und siehe, zwei von ihnen gingen an demselben Tage in ein Dorf, das war von Jerusalem etwa zwei Wegstunden entfernt; dessen Name ist Emmaus.« Lk. 24,13) an den Abend des Ostertages gehört, doch da — außer bei den Anglikanern, die daher die Perikope folgerichtig im Evensong des Ostersonntags haben — ein unterschiedlicher mehrmaliger täglicher Gottesdienst nicht üblich ist (außer am Gründonnerstag, und abgesehen von den, ganz anders gearteten, drei Gottesdiensten zu Weihnachten, und, seit dem Ersten Weltkrieg, an Allerseelen), ist es eine naheliegende Verwendung, diese ansprechende Evangelienstelle eben am Folgetag vorzutragen.

In den Predigten wird natürlich auf diverse Gesichtspunkte darin eingegangen: auf die Sehnsucht der Jünger, und darauf, daß ihnen die Augen aufgingen, als sie Jesus erkannten; auf ihren eiligen (und in jenen Zeiten sicher nicht ungefährlichen) Aufbruch, noch in derselben Nacht, zurück nach Jerusalem, zu »den Elf«, die dort versammelt waren, um ihnen zu berichten. Alles sicherlich aus der Sicht eines Gläubigen legitime und wichtige Ausdeutungen. Der aktuelle Papst hinwieder stellt die »Freude« in den Mittelpunkt seiner heutigen Überlegungen:
A ciascuno formulo l’augurio di trascorrere nella gioia e nella serenità questo Lunedì dell’Angelo, in cui si prolunga la gioia della Risurrezione di Cristo.

Buona e santa Pasqua a tutti! Buon pranzo e arrivederci!
Da kann man wirklich nur sagen: Mahlzeit und auf Wiederschaun'! ...

Denn wer gleich mit der Mitteilung »der Elf« anfängt: »... die sprachen: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und Simon erschienen« (Lk. 24,34), mag subtil dem Papsttum schmeicheln (das sich auf seine Nachfolge nach besagtem »Simon« beruft, mordet aber die poetische Schönheit der Perikope zugunsten eines: »Wer Christ ist, ist immer gut drauf, denn er weiß: der HErr ist auferstanden!« Ach ja, wie ich das liebe ...

Aber nehmen wir die ganze Perikope einmal her (ich wähle die Luther-Übersetzung, die auch in ihrer 1984er-Version immer noch sprachmächtiger ist als die allzu platte Einheitsz-Übersetzung):
13 Und siehe, zwei von ihnen gingen an demselben Tage in ein Dorf, das war von Jerusalem etwa zwei Wegstunden entfernt; dessen Name ist Emmaus. 14 Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschichten. 15 Und es geschah, als sie so redeten und sich miteinander besprachen, da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. 16 Aber ihre Augen wurden gehalten, daß sie ihn nicht erkannten. 17 Er sprach aber zu ihnen: Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs? Da blieben sie traurig stehen. 18 Und der eine, mit Namen Kleopas, antwortete und sprach zu ihm: Bist du der Einzige unter den Fremden in Jerusalem, der nicht weiß, was in diesen Tagen dort geschehen ist? 19 Und er sprach zu ihnen: Was denn? Sie aber sprachen zu ihm: Das mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Taten und Worten vor Gott und allem Volk; 20 wie ihn unsre Hohenpriester und Oberen zur Todesstrafe überantwortet und gekreuzigt haben. 21 Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde. Und über das alles ist heute der dritte Tag, dass dies geschehen ist. 22 Auch haben uns erschreckt einige Frauen aus unserer Mitte, die sind früh bei dem Grab gewesen, 23 haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben eine Erscheinung von Engeln gesehen, die sagen, er lebe. 24 Und einige von uns gingen hin zum Grab und fanden's so, wie die Frauen sagten; aber ihn sahen sie nicht. 25 Und er sprach zu ihnen: O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben! 26 Mußte nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? 27 Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war. 28 Und sie kamen nahe an das Dorf, wo sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte er weitergehen. 29 Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben. 30 Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach's und gab's ihnen.31 Da wurden ihre Augen geöffnet und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen. 32 Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete? 33 Und sie standen auf zu derselben Stunde, kehrten zurück nach Jerusalem und fanden die Elf versammelt und die bei ihnen waren; 34 die sprachen: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und Simon erschienen. 35 Und sie erzählten ihnen, was auf dem Wege geschehen war und wie er von ihnen erkannt wurde, als er das Brot brach.
 Ein schöner Text, voll Poesie und Symbolik! In seiner erkennbar legendarischen Form ein Beispiel, wie die frühe Christenheit die Katastrophe der grausamen Hinrichtung ihres Meisters zu bewältigen und in einen Sinnzusammenhang zu bringen versuchte. Und — vielleicht — auch ein Zeichen dafür, daß die durch dieses schreckliche Ende aufgewühlten und bis zur Panik verschreckten Jünger tatsächlich damals in Visionen ihren geliebten Meister erfahren durften! Denn so, wie überzeugte Gläubige und die vom kirchlichen Lehramt allein akzeptierten Theologen diese (und andere) Evangelientexte durch ihre Interpretation als »historische Wahrheiten« (»photographierbare Ereignisse«, wie es Eugen Drewermann in einigen seiner Schriften zuspitzend nennt) vergewaltigen, so gehen auch jene m.E. fehl, die darin nur (fromme und/oder auch bloß pathologische) Lügenmärchen erkennen wollen. Sie sind beides nicht! Wenn uns an anderer Stelle (Lukas schweigt davon, aber der war schließlich auch Arzt!) in der Erzählung vom »ungläubigen Thomas« ein Zeigefinger-Stochern in den Wundmalen vorgeführt wird, dann ist das kein Obduktionsbericht, sondern der hilflose — und hilflos bleiben müssende! — Versuch einer späteren Generation, die Erfahrungen jener ersten Gruppe von Christen über etwas für sie Unbegreifliches — zunächst tief Verstörendes, dann aber Tröstendes — in Worte zu kleiden.

Ein Aspekt der Emmaus-Erzählung ist für mich in all den Interpretationen dann offenbar zu kurz gekommen (wenigstens habe ich ihn noch in keiner Predigt geäußert gehört): jener, den ich als Titel dieser Überlegungen gewählt habe — die Tatsache, daß eine Bitte von den beiden Emmausjüngern geäußert wird: »Bleibe bei uns; denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt.«

Was veranlaßt diese ihre Bitte? War es die einnehmende Katechese, die ihnen den traurigen Weg zum Städtchen Emmaus so angenehm verkürzt hatte, und von der sie hoffen, daß sich nun danach noch weitere interessante Vorträge zum und nach dem Abendessen ergäben? Wohl kaum. Es ist ihre Besorgnis um diesen Fremden, der in der einbrechenden, und wegen Wegelagerern und wilden Tieren gefährlichen Nacht nicht weitergehen, sondern bei und mit ihnen sicheres Quartier nehmen sollte.

Und es brannte ihnen das Herz — wovon? Davon, endlich aus Mose und allen Propheten haarklein nachgewiesen bekommen zu haben, daß das alles ohnehin nicht anders möglich war? — Das wäre der Grund? So ganz ernstlich gefragt ...?

Wenn mir ein Arzt heute haarklein — zwar nicht aus Mose und den Propheten, wir leben schließlich heute, aber aus weit zurückliegenden Röntgenbildern und Blutbefunden — darlegen kann, daß es medizinisch ganz logisch und folgerichtig war, daß ein geliebter Mensch an dieser oder jener heimtückischen Krankheit gestorben ist (»Sehen Sie diese dunklere Stelle unter dem Rippenbogen, hier? Da dürfte also bereits der Tumor ...«) — da brennt höchstens mein Herz (und mein Auge) vor Schmerz! Und möglicherweise vor Wut, daß ein früherer Arzt das offenbar nicht rechtzeitig erkannt, nicht richtig gedeutet hatte ...

Ihnen aber brannte das Herz aus einem positiven Gefühl heraus: sie hatten etwas Tröstliches erkannt! Etwas, was ihnen in ihrem Gang nach Emmaus aufging. Und der Fremde, den sie zu sehen meinten, war ihnen zum Freund geworden, den sie nicht schutzlos durch die Nacht weiterziehen lassen wollten, sondern den sie einluden, ja »nötigten«, doch lieber bei ihnen zu bleiben und sich mit ihnen zu stärken. Und bei dieser Stärkung, und an der Art, das Brot zu brechen, erkannten sie, warum ihnen das Herz brannte. Und die Vision verschwand vor ihnen — denn sie brauchten sie ja nur, um sie hinzuleiten zur Erkenntnis. Und noch eines: in dem Augenblick, in dem sie diese Erkenntnis traf, wußten sie, daß sie aufbrechen müßten.

Ist es nicht bezeichnend, daß sie augenblicklich aufbrachen, nachdem in und an ihnen aufgebrochen war, was durch die Trauer und Verzweiflung wie versteinert schien — und: gibt es für das Teilen eines in einem inspirierten Augenblick, also einer Vision, ganz sicher erkannten Gutes ein schöneres Symbol, als seine Mit-teilung?

3 Kommentare:

Brettenbacher hat gesagt…

Läuft LePenseur über die Karwoche und die Ostertage immer zu solcher Form auf ?
Wir haben ihm für vieles zu danken!

Die Dauerfreudigkeit des neuen Papstes wird immer bedrückender, erdrückender. Es kostet immer mehr Anstrengung, sie n i c h t als Roheit zu empfinden.

Le Penseur hat gesagt…

@Brettenbacher:

Vielleicht wirkt der Erholungseffekt über Feiertage (länger schlafen, gut essen etc.) formsteigernd? :-)

Nein, im Ernst: es freut mich, daß Ihnen die letzten Artikel offenbar gefallen haben. Danke für das Feedback!

Anonym hat gesagt…

Exegese und Theologie so mancher Skeptiker mögen mich immer öfter mehr zu berühren und zum Denken anregen, als die meisten der modernen bzw. modischen Weichspühl- und Wohlbefindlichkeitssprüche heutiger Kirchenleerer (und Leererinnen! Denn die grassierende Predigtsucht unter Laien lässt besonders die Frauen unter ihnen speziell zarte und einfühlsame Worte hervorbringen. Pfui Teufel!).
Schöne Osterzeit noch!
thysus